“Warum fährt man denn nach Estland?” war die wohl häufigste Reaktion, die ich erntete, wenn ich von unserer Reiseplanung nach Tallinn, der Hauptstadt des nördlichsten Landes des Baltikums, erzählte. Das Land, welches an Russland und Lettland grenzt, darüber hinaus viele Kilometer Ostseeküste aufweist und im Norden nur einen Katzensprung von Skandinavien entfernt liegt, scheint auf dem Radar vieler noch nicht angekommen zu sein. Zu Unrecht, wie ich finde, denn Tallinn präsentiert sich mit einer interessanten Mischung aus Mittelalter-Romantik und Moderne sowie einigen Überresten aus 50 Jahren Sowjetunion.
Die Altstadt von Tallinn (Vanalinn)
Die Altstadt ist das Herzstück von Tallinn. Bis heute ist sie von den mittelalterlichen Stadtmauern und Wehrtürmen umgeben. Ich war schnell begeistert von den vielen schmalen und verwinkelten Gässchen, den gepflegten, bunten Häuserfassaden und den rötlichen Ziegelstein-Bedachungen, die es hier überall zu sehen gibt.
Im Kern der Altstadt befindet sich das historische Tallinner Rathaus (Town Hall). Auf dem davor liegenden Rathausplatz sowie in den umliegenden Gässchen könnte man fast den Eindruck bekommen, in einer Zeitmaschine gelandet zu sein. Nicht selten stößt man hier auf mittelalterliche Gestalten – Gaukler, Wächter, Marktschreier – die Touristen in die umliegenden Lokale zu locken versuchen. Einmal begegnete uns gar eine ganze Traube von Menschen, die einer mittelalterlichen Gestalt und ihrer Musik durch die Straßen bis zum Rathausplatz folgten. Obwohl ich solche “Schauspiele” für Touristen normalerweise nicht besonders mag, blieb es hier unaufdringlich und passte sogar zur Atmosphäre der Stadt mit ihren mittelalterlichen Gemäuern.
Während der Weihnachtszeit befindet sich auf dem Rathausplatz auch der Tallinner Weihnachtsmarkt, “einer der schönsten Weihnachtsmärkte überhaupt”, wie ich vor der Reise gelesen hatte. Obwohl das sicherlich Ansichtssache ist, war es zumindest der perfekte Ort um sich bei weihnachtlicher Atmosphäre vor dem großzügig geschmückten Weihnachtsbaum den ein oder anderen fruchtigen Glöggi (Glühwein) zu gönnen. Bei der Kälte ein sinnvolles Unterfangen!
In Tallinn’s Altstadt lässt sich trotz seiner beschaulichen Größe locker ein ganzer Tag (oder mehr) verbringen. Ob man sich einfach durch die Straßen treiben lässt, die St. Nikolaikirche mit ihrer runden Kuppel bestaunt oder auf den Kirchturm der St. Olaikirche steigt, ob man eines der vielen kleinen Museen besucht oder für 3 Euro auf einem erhaltenen Stück der massiven Stadtmauer entlang läuft – es gibt in der Altstadt ausreichend zu sehen und zu tun.
Keineswegs aussparen sollte man aber einen Spaziergang auf den Domberg (Toompea). Hier befindet sich die Alexander-Newski-Kathedrale. Die Estländer stehen ihr zwar skeptisch gegenüber, wurde sie doch als Sinnbild der russischen Macht auf dem Hügel über der estnischen Hauptstadt errichtet, nichtsdestotrotz ist sie mit ihren runden Kuppeln ein wirklich beeindruckendes Bauwerk. Auch ein Blick in das pompöse Innere lohnt sich. Fotos machen darf man hier allerdings nicht.
Ein weiterer Grund, den Domberg bei einem Streifzug durch Tallinn nicht auszusparen, sind die von hier tollen Aussichten über die Stadt. Es lohnt sich sogar, zweimal zu den Aussichtspunkten zu kommen um die Stadt sowohl im Tageslicht als auch im Meer ihrer Abendlichter zu sehen. Im Winter ist es optimal, die “blaue Stunde”, etwa zwischen 15 und 16 Uhr, für einen Besuch der Aussichtspunkte zu nutzen, da sich der Himmel dann in besonders schönen Farben färbt.
Neben den Aussichtspunkten auf dem Domberg gibt es noch einige weitere Möglichkeiten, den besten Blick über die Stadt zu erhaschen. Meine Bloggerkollegin Silja von Fernwehge hat einige Optionen getestet und die beste Aussicht gekürt. (Hier geht es zu ihrem Artikel “Der beste Ausblick über Tallinn”).
Unterwegs außerhalb des Altstadtrings
Wer ein wenig mehr Zeit zur Erkundung der Stadt mitbringt, sollte auch außerhalb der Altstadt auf Entdeckungstour gehen.
Kalamaja
Im nordwestlich der Altstadt gelegenen Stadtteil Kalamaja – früher Arbeiterviertel, heute aufsteigendes Trendviertel – kann man in Ruhe durch die Straßen streifen und die für diesen Stadtbezirk typischen, bunten Holzhäuser bestaunen.
Telliskivi
Obwohl zu Kalamaja gehörend, verdient Telliskivi doch eine eigene Erwähnung. Auf ranzigen Fabrikgeländen in der Nähe des Tallinner Bahnhofs befinden sich heute trendige Shops, hippe Cafés und Restaurants. Außerdem ist hier ein Hotspot der Tallinner Street Art!
Patarei
Bewegt man sich durch Kalamaja auf Tallinns Küste zu, so stößt man dort irgendwann auf die Meeresfestung Patarei, die 1919 zu einem Gefängnis wurde. Hier wurden tausende Menschen in dunkle Räume eingepfercht, auch Hinrichtungen wurden hier durchgeführt. Die letzte Hinrichtung erfolgte 1991 im Jahr der Unabhängigkeit Estlands von der Sowjetunion, während der Gefängnisbetrieb aber noch bis 2002 aufrecht erhalten wurde. Heute kann man in Patarei durch die verlassenen Gefängnisflure schleichen und sich bei grausigen Vorstellungen des früheren Betriebes den Schauer über den Rücken laufen lassen. Ich hätte es mir gerne angesehen. Leider blieben wir aber vor verschlossenen Toren stehen, da Patarei nur in den Sommermonaten zu besichtigen ist. Einblicke in die gruseligen Gemäuer gibt es in einem Artikel von 101 Places “Patarei: ein Stück deprimierende Sowjet-Geschichte” .
Kadriorg
Leider haben wir uns dieses recht hoch angepriesene Viertel an einem sehr nassen, kalten und grauen Tag ansehen müssen, was vielleicht der Grund war, dass wir ihm nicht viel abgewinnen konnten. Im Sommer soll der Kadriorg Park aber ein beliebter Treffpunkt und die schönste Grünfläche der Stadt sein.
Unterwegs nach Kadriorg gab es übrigens auch ein Kontrastprogramm zu den bunten Altstadt-Häuschen zu sehen. Sowjet-Bauten. Grau in Grau.
Hafen
Hier kann man den großen Fähren beim Ablegen zusehen oder gar selbst in eine Fähre steigen, um beispielsweise einen Tagesausflug ins nur 2,5 Stunden entfernte Helsinki vorzunehmen.
Tipps für’s Kulinarische
Eine Sache, die mich in Tallinn völlig überrascht hat, war das große und vielfältige Angebot an tollen Cafés und Restaurants. Von mittelalterlich angehauchtem Ambiente, über estnische Hausmannskost bis hin zu asiatischen oder indischen Speisen sowie ausschließlich veganen Restaurants gab es hier wirklich für jeden Geschmack etwas zu finden. Das größte Problem: eine Auswahl treffen.
Hier meine Empfehlungen:
Olde Hansa
Keine Frage, dieses Restaurant ist äußerst touristisch und zumeist gut besucht. Ein Besuch im Olde Hansa lohnt sich dennoch allemal! Einmal durch die Tür getreten, fühlt man sich wie im Mittelalter. Die Einrichtung ist rustikal, die Kellnerinnen in Mittelalter-Gewändern grüßen mit “Me Lord” und “Me Lady”, die Getränke werden in schweren Tonkrügen serviert und die Musik im Hintergrund ist ebenfalls aus einer anderen Zeit. Zugegeben, ich fand es unglaublich unterhaltsam. Und das Beste: das Essen war wirklich fantastisch!
Draakon
Wer eine kleinere (oder günstigere) Mittelalter-Zeitreise wünscht, begibt sich einfach ins nur wenige Schritte vom Olde Hansa entfernte Drakoon. Hier lässt es sich wunderbar in rustikaler Atmosphäre bei Kerzenschein aus Tonkrügen trinken oder einen Snack einnehmen. Von Elchsuppe über gefüllte Teigtaschen bis hin zum Rippchen gibt es hier ausreichend Leckereien zu kleinen Preisen zu probieren. Besonders gut fanden wir übrigens die Elchsuppe, die direkt aus der Suppenschüssel geschlürft wird!
Reval Café
Im Reval Café, was es an mehreren Orten in Tallinn gibt, findet man eine legere Atmosphäre vor, in der man während der Stadtbesichtigung einfach mal verschnaufen und bei fairen Preisen ein warmes Getränk schlürfen (die Chai Latte…mmmh!) oder eine Kleinigkeit schlemmen kann. Besonders schön und stylisch eingerichtet war das Café Reval in Telliskivi.
Kehrwieder
Dieses kleine und gemütliche Café im Herzen der Altstadt, direkt am Rathausplatz gelegen, hat uns besonders durch sein Interior überzeugt. Hier kann man sich in dicke (Lese-) Sessel oder auf eine federnde Couch plumpsen lassen oder sich gar auf dicken Kissen direkt ins Fenster setzen und das Treiben auf dem Rathausplatz beobachten. Einziger kleiner Minuspunkt waren die doch recht stolzen Preise des Cafés.
Was wir im übrigen nicht verstehen konnten, war der Hype um das Pfannkuchenhaus “Kompressor”. Die Einrichtung war wenig ansprechend, es war immer voll, die Bedienung nicht die freundlichste. Die Pfannkuchen waren gut, aber Begeisterungssprünge haben sie auch nicht in uns ausgelöst.
Eine besondere Empfehlung: Schokolade und Trüffel kaufen bei Karu Talu Sokolaad
Ob als Mitbringsel für Daheimgebliebene oder um sich selbst etwas Gutes zu gönnen – dieser kleine Laden in einem Gässchen zum Rathausplatz hin, ist etwas ganz Besonderes! Bis auf die Knoblauch-Chili-Meersalz-Trüffel, die man zu Bier essen soll (nach denen man aber niemanden mehr ansprechen kann!!) waren wir von allem, was wir dort gekostet haben, schlichtweg begeistert. Besonders empfehlenswert ist der “Snowball” – ein riesiger Energy Ball – und die glitzernden Vana Tallin Trüffel. Unbedingt probieren!
Meine Empfehlung für Tallinn: Saunen über den Dächern der Stadt
Ein paar Gehminuten außerhalb des Altstadtrings liegt das Hotel Radisson Blu Olümpia. Hier ist im 26. Stock der “Club 26” untergebracht, der Fitness- und Wellnessbereich des Hotels. Egal ob man Hotelgast ist oder nicht, kann man sich in diesem Bereich eine private Sauna mit Swimmingpool mieten, inklusive Panoramablick über Tallinn – für uns der beste Ausblick über die Stadt! Und das sogar, während man in der Sauna sitzt und entspannt. Die Kosten zum Mieten der Sauna betragen am Morgen 50 Euro pro Stunde, am Nachmittag 80 Euro – egal, mit wie vielen Leuten man die Sauna bucht (höchstens aber 10). Zugegeben: das ist kein Schnäppchen, aber für dieses schöne Erlebnis jeden Euro wert!
Nützliche Infos zur Reise
Vorbereitung
Besondere Vorbereitungen sind für eine Reise nach Tallinn nicht notwendig. In Estland wird in Euro bezahlt, mit Englischkenntnissen kommt man gut voran. Mögliche Reisevorbereitungen betreffen die Ausstattung mit (besonders) warmer Kleidung, sofern man in der Winterzeit die Reise ins kalte Tallinn antritt.
Anreise
Sofern man nicht schon im Baltikum unterwegs ist oder aus dem skandinavischen Raum mit einer Fähre nach Tallinn übersetzt, wird die Anreise vermutlich per Flugzeug erfolgen. Die meisten Fluggesellschaften fliegen aus dem deutschen Raum mit einem Zwischenstopp nach Tallinn. Welche Airline die günstigste ist bzw. wo ein Zwischenstopp erforderlich wird, ist abhängig vom Abflugort, daher empfehle ich, über eine Suchmaschine wie fluege.de nach der besten Option zu schauen. Mögliche Airlines von Deutschland sind beispielsweise Scandinavian Airlines (SAS), Finnair, Air Baltic oder auch Ryan Air (von Weeze).
Weg zur Unterkunft
Egal ob man am Hafen oder am Flughafen in Tallinn ankommt, den Weg zur vorgesehenen Unterkunft würde ich mit dem Taxi zurücklegen, zumal das Taxifahren in Tallinn recht erschwinglich ist. Ein Taxi vom Flughafen in die Altstadt sollte beispielsweise zwischen 7 und 10 Euro kosten. Wie in anderen Ländern auch, versucht der ein oder andere Taxifahrer dem unwissenden Touristen auch gerne mal etwas mehr Geld aus der Tasche zu ziehen. Wir wurden mit einem Festpreis von 15 Euro konfrontiert. Lasst euch nicht darauf ein und macht somit nicht den gleichen Fehler wie wir. Besteht auf das Einschalten des Taxometers! Eine tolle App zum Bestellen eines Taxis ist übrigens Taxifi. Hierüber könnt ihr das Taxi direkt an den gewünschten Ort bestellen und bekommt sogar angezeigt, wie lange der Wagen zu euch braucht.
Unterkunft
Unterkünfte gibt es in Tallinn ausreichend und in allen Preisklassen. Besonders tolle Unterkünfte sind auf airbnb zu finden.
Eure Meinung interessiert mich! Seid ihr schon einmal in Estland oder den anderen Baltikum Ländern unterwegs gewesen? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht?
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